Biografische Elemente in Alfred Hitchcocks Filmen
- Diplomarbeit -
In gleicher Weise wie das Essen nimmt auch das Trinken einen großen Stellenwert in Hitchcocks Leben ein. Hitchcock war ein großer Weinkenner, der seinen Gästen mit Vorliebe die besten Weine servierte. Im Weinkeller seines Hauses, den er sich nach seiner Ankunft in Amerika eingerichtet hatte, lagerte ein Vermögen an wertvollen alten Weinen, von denen er auch immer wieder welche an gute Freunde verschenkte. Er ließ sich sogar spezielle Weinsorten, die er gerne trank, extra aus anderen Ländern einfliegen (ein Beispiel dafür stellt der Apfelwein dar, den er bei seiner Hochzeitsreise nach St. Moritz kennen und lieben gelernt hatte). Bei der Sorge um sein leibliches Wohl scheute er keine Kosten und Mühen, selbst wenn er an exotischen Plätzen einen Film drehte und nicht auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten wollte.
Mit der Zeit wurde aber aus diesem Genuss eine Gewohnheit, die sich (zuerst verdeckt, später offensichtlich) zu einem handfesten Problem entwickelte. Wie das Essen für ihn zur Sucht geworden war, benutzte er den Alkohol, um seine Probleme besser verdrängen zu können. (Fründt, 1986, S. 132) Auf diese Probleme und Ängste gehe ich in Kapitel 3.4.1 und 3.4.2 näher ein.
„[…] vom exquisiten Rotwein bis zum Wodka pur“ (Karasek (1), 1988, S. 144) erfüllte alles seinen Zweck. Besonders beliebt waren bei ihm aber die Cocktails, die Hellmuth Karasek als eine „bevorzugte[n] amerikanische[n] Tarnform vor, zwischen und nach dem Essen“ bezeichnet (Karasek (1), 1988, S. 144). Sein verändertes Verhältnis zum Alkohol manifestiert sich auch in folgender Äußerung (Auszug eines Interviews von 1972):
„Sie nehmen doch nicht an, daß ich guten Wein an meine Gäste verschwende. […] Mit gutem Wein betrinkt man sich nur selbst. Konversation ist der schlimmste Feind von gutem Essen und Wein.“ (Spoto, 1993, S. 613f)
Mithilfe des Alkohols versuchte er, ins „Nichts“ zu entfliehen, „um Ängste, Unsicherheiten und Schwächegefühle zu kompensieren“ (Der neurotische Mensch und seine Lebensschwierigkeiten, 1984, S. 318f). Diese Abschirmung von der Umwelt, die einhergeht mit der Ablehnung jeglicher Hilfe, verstärkt noch den Teufelskreis von dringend benötigter menschlicher Nähe und der daraus resultierenden Flucht in den Alkohol. Irmgard Fuchs beschreibt den Charakter eines Alkoholikers folgendermaßen:
„Der Neurotiker hält ständig einen Abstand zwischen sich und den Mitmenschen […] Spürt er doch hin und wieder diesen Stachel, der ihn zu den anderen hindrängt, dann greift er zum Alkohol, um ihn zu dämpfen. […] Jeder Akt in Richtung auf die Gemeinschaft hinterläßt im Einzelnen eine Spur, die das Selbstwertgefühl hebt und das Ich stärkt. Der Alkoholiker verweigert sich jedoch und gleicht dabei einem ‚Faß ohne Boden‘, einem Hungrigen, der niemals satt wird, weil er die falsche Nahrung zu sich nimmt. Die Psychoanalyse spricht daher auch vom ‚oralen‘ Charakter, d.h. von demjenigen, der auf einer kindlichen Entwicklungsstufe stehen geblieben ist und nicht zur reifen, genitalen Persönlichkeit heranwachsen konnte.“ (Der neurotische Mensch und seine Lebensschwierigkeiten, 1984, S 331f)
Dies zeigt sich deutlich in der Beziehung zu seiner Frau, die er „wie eine Mutter brauchte“ (Karasek (2), 1988, S. 160) und mit der er nach eigenen Angaben in einer „fast lebenslange[n] sexuelle[n] Enthaltsamkeit“ gelebt hatte (Spoto, 1993, S. 611 / siehe Kapitel 4.1.1).
Nachdem Alma Hitchcock zwei Schlaganfälle erlitten hatte, ließ ihn die Angst vor ihrem Tod verstärkt zum Alkohol greifen. Anfang der 1970er-Jahre war seine Abhängigkeit so groß, dass sie die Zusammenarbeit mit Kollegen schwer beeinträchtigte und das Verhältnis zu Alma stark belastete. (Spoto, 1993, S. 608f) 1978 begab Hitchcock sich schließlich in eine Entziehungskur, die aber nicht den gewünschten Erfolg brachte.
In den letzten beiden Jahren seines Lebens nahm der körperliche und geistige Verfall rapide zu. Der Drehbuchautor David Freeman erinnert sich gut an Hitchcocks Zustand.
„Er schüttete sich ganze Wassergläser voll Schnaps und Brandy […] und lehnte seinen Kopf zurück und trank das ganze Glas in einem großen Schluck. Da verstand ich, wie dringend er das brauchte.“ (Spoto, 1993, S. 640)
Hitchcock, der somit zeit seines Lebens eine enge Beziehung zum Alkohol hatte, verlieh nicht nur ihm, sondern auch dem Trinken allgemein eine besondere Rolle in seinen Filmen. Erst wenn man sie aufmerksam anschaut, fällt einem auf, wie häufig getrunken wird.
Ganz selbstverständlich ist das Trinken in Gesellschaft, wie z. B. auf einer Party des Musikers, den Jeffries in Rear Window durch sein Fenster beobachtet. Während sich auf der Ablage des großen Atelierfensters Dutzende alkoholischer Getränke reihen, ruft jemand lautstark nach Gin. Zur gleichen Zeit sieht man ein Stockwerk tiefer Miss Lonelyheart, die alleine lebt und kein Glück bei Männern hat. Sie hat sich zum Ausgehen fertigmacht und genehmigt sich einen großen Drink, um sich Mut zu machen.
Hingegen greift Lars Thorwald zur Flasche, um seine ohnmächtige Wut herunterzuspülen. Er kümmert sich tagtäglich um seine bettlägerige Frau, während sie nichts anderes zu tun hat, als an ihm und dem Essen herumzunörgeln. Statt sich ihr zu widersetzen, sucht er die Flucht vor ihrer ständigen Unzufriedenheit im Alkohol.
Im Laufe des Films keimt bei Jeffries der Verdacht, dass Thorwald seine Frau umgebracht hat. Er schickt Lisa mit einem Drohbrief zu Thorwalds Wohnung, um ihn unter der Tür durchzuschieben. Jeffries' Pflegerin, die alles mit ihm beobachtet, hält die Spannung nicht mehr aus und bittet ihn um einen Cognac.
In North by Northwest erzeugt der Konsum von Alkohol immer wieder Streitigkeiten zwischen Roger O. Thornhill und seiner Mutter, die hier stellvertretend für Hitchcock und Alma stehen könnten. Er trifft sich abends mit ihr zum Essen und lässt ihr sogar vorsorglich durch seine Sekretärin ausrichten, dass „ich dann schon zwei Martinis getrunken habe, sodass sie nicht erst meinen Atem kontrollieren muss.“ Diese Vorsicht suggeriert einen schwachen Charakterzug Thornhills, der sich nicht gegen die bestimmende Art der Mutter wehren kann. Um sich nicht alles von ihr vorschreiben zu lassen, kulminiert sein Handeln in Trotzreaktionen.
Ein anderes Motiv zum Trinken wird in Mr. and Mrs. Smith erstmals angesprochen. Dort wird aus dem Alkohol ein Allheilmittel gemacht, eine Medizin, die bei allen Beschwerden hilft. Nachdem Ann ihrem Ehemann David nach einem Streit die Tür vor der Nase zugeschlagen hat, empfiehlt ihm ein Freund eine Flasche Gin, die eine ganze Hausapotheke ersetze und gut gegen Nasenbluten sei.
Ein andermal will Ann ihren neuen Verehrer verarzten, der bei ihrer Verabredung völlig durchnässt wurde. Zu ihrer Bemerkung „Ein kräftiges Glas und wir haben morgen eine Lungenentzündung weniger. Ein Schluck und runter damit“ hält Jeff einen Vortrag über die Gefahren und Auswirkungen des Alkohols auf den Menschen. Das nützt ihm aber nichts, da Ann die Tücken des Alkohols bagatellisiert, ja sogar ignoriert, indem sie sagt: „Jeff, das ist kein Alkohol, das ist Medizin. […] und tötet Bakterien.“
Anns Rechtfertigung, Alkohol sei gesund, scheint fast eine Entschuldigung Hitchcocks für sein häufiges Trinken zu sein, da er diesen Spruch auch privat häufig verwendet hat (Spoto, 1993, S. 276f).
Wenn man diesen Zusammenhang zwischen Hitchcocks privaten Gewohnheiten und bestimmten Filmen kennt, ist man verblüfft, wie häufig dieses Motiv in der Filmhandlung auftaucht. In Stage Fright wird am Anfang in einer Rückblende beschrieben, wie Charlotte nach dem Mord an ihrem Mann völlig aufgelöst zu ihrem Geliebten nach Hause kommt und erst etwas trinken muss, um wieder ihre Fassung zu erlangen. Auch hier handelt es sich um eine Art Unwohlsein, wenn auch um ein eher seelisches.
Später im Film bereitet Eves ahnungslose Mutter für einen alten Freund ihrer Tochter einen Grog gegen seine vorgetäuschte Erkältung. Ebenso gespielt ist Evas Übelkeit, die sie in einem Wirtshaus mit einem Glas Whisky zu beseitigen versucht. Dort hält sich nämlich ein junger Polizeiinspektor auf, mit dem sie ins Gespräch kommen will, um mehr über den Mord zu erfahren.
Auch Vertigo bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Im Laufe des Films verlieben sich Scottie und Madeleine ineinander. Als sie nach einem Albtraum voller Angst zu Scottie fährt, beruhigt er sie mit einem Brandy. „Hier, trink einen Schluck. Das ist wie Medizin.“
Gegen Ende des Films werden fast dieselben Worte von Scottie wiederholt, als er aus Judy eine zweite Madeleine zu machen versucht, indem er sie genauso kleiden und frisieren lässt. Spätestens jetzt wird Judy bewusst, dass sie selbst bei Scottie keine Chance hat, und nimmt das von ihm angebotene Allheilmittel gegen Frust dankend an. „Hier, trink das runter. Es ist wie Medizin.“
Nicht nur der Alkohol spielt in Hitchcocks Filmen eine große Rolle, sondern das Trinken allgemein. In Shadow of a Doubt benutzte Hitchcock das Motiv des vergifteten Kaffees – im Gegensatz zum späteren Notorious – noch auf humorvolle Weise, um sich über das Hobby von Charlies Vater lustig zu machen. Er und sein Nachbar Herb sind nämlich begeisterte Hobby-Kriminologen, die sich ständig über den perfekten Mord unterhalten.
Eines Tages fragt Herb, ob seinem Freund etwas Ungewöhnliches am Kaffee aufgefallen sei. Als dieser verneint, klärt Herb ihn auf, dass er Soda anstelle von Gift in seine Tasse getan habe, weil „Soda noch einen stärkeren Geschmack hat als Zyankali.“ Dieser makabre Scherz erinnert stark an Hitchcocks eigenen Galgenhumor.
Notorious ist ein Film, in dem sich die Handlung einzig und allein um das Trinken dreht. Gleich zu Beginn gibt Alicia nach der Verurteilung ihres Vaters eine feuchtfröhliche Party, um ihre Vergangenheit als Tochter eines Landesverräters zu verdrängen. Natürlich sind alle Probleme am nächsten Morgen noch präsent, als sie völlig verkatert aufwacht. Devlin hat ihr schon etwas zurechtgemacht und besteht darauf, dass sie es in einem Zug austrinkt, obwohl es nach Alicias Grimasse zu urteilen scheußlich schmecken muss.
Kurz darauf sieht man die beiden in einem Straßencafé sitzen. Alicia erzählt ihm stolz, dass sie seit acht Tagen nüchtern sei. Er glaubt ihr nicht, was sie dazu veranlasst, aus Trotz einen zweiten Whisky zu bestellen. Spätestens jetzt weiß man, dass Alicia ein Alkoholproblem hat. Dieses Thema wird von Hitchcock mit Notorious zum ersten Mal offen behandelt und in Under Capricorn wieder aufgenommen.
Alicia heiratet Sebastian, einen Freund ihres Vaters, um der amerikanischen Regierung geheime Informationen liefern zu können. Auf der Gesellschaft, die der Nazi-Sympathisant Sebastian zur Einführung seiner Ehefrau gibt, wird Champagner ausgeschenkt. Diese Szene ist auch bekannt für ihren Suspense, da Alicia und Devlin gegen den Durst der Gäste arbeiten, während sie im Keller nach falschen Weinflaschen mit Uran suchen. Die beiden Agenten können sich gerade noch rechtzeitig entfernen, bevor Sebastian in den Weinkeller geht, um Nachschub zu besorgen. Hier sieht man auch einen von Hitchcocks biografisch angehauchten Selbstauftritten, wenn er ein Glas Champagner in einem Zug leert und aus dem Bild geht.
Seit Shadow of a Doubt ist Notorious wieder der erste Film, in dem das Motiv des vergifteten Getränks behandelt wird. Als Sebastian Verdacht gegen Alicia schöpft, beschließen er und seine Mutter, sie langsam zu vergiften. Verbale und visuelle Hinweise wie „Trink doch deinen Kaffee, Liebling, sonst wird er kalt“ und Großaufnahmen von halb vollen Kaffeetassen lassen auf die Verabreichungsform des Giftes schließen. Alicia selbst ahnt nichts, auch wenn sie immer häufiger Schwindelanfälle und Übelkeit verspürt. Hierbei wird ihr ihre Alkoholabhängigkeit zum Verhängnis.
Als sie sich trotz der Vergiftungssymptome wegen Instruktionen mit Devlin trifft, glaubt er, sie habe wieder mit dem Trinken angefangen, und hilft ihr nicht. Sie bestärkt seine Vermutung noch, indem sie sagt, sie habe einen Kater. Sie verhält sich ganz so, wie er es von ihr erwarten würde.
In diesem Film ist alles, was mit Trinken zu tun hat, gefährlich: Alicias Vater schluckt im Gefängnis Gift, seine Tochter hat ein Alkoholproblem und wird ihrerseits beinahe mit Gift im Kaffee getötet und das Uran, hinter dem alle her sind, ist in Flaschen versteckt, die in einem Weinkeller lagern.
Vergiftete Drinks gibt es noch in zahllosen anderen Filmen, wie z. B. in Suspicion, in dem eine Frau glaubt, ihr Mann wolle sie langsam vergiften. In einer bekannten Szene trägt er ein Glas Milch die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer. Die Beleuchtung des Glases zusammen mit der Kameraeinstellung suggerieren dem Zuschauer seine tödliche Absicht. Zu Hitchcocks großem Bedauern verhinderte es Cary Grants Image, einen Mörder zu spielen. Der Verdacht wird am Schluss entkräftet.
Auch in Under Capricorn will die Wirtschafterin Milly ihre alkoholkranke Hausherrin mit einer Überdosis Schlafmittel vergiften, um sich voll und ganz um ihren geliebten Herrn kümmern zu können. Es gelingt ihr aber nicht.
Was hier auch noch angedeutet wird, ist die Macht, die man über Alkoholkranke haben kann. Milly hat ihre Herrin in die Abhängigkeit getrieben, damit sie das Haus nach ihren Wünschen führen kann. Sie konfrontiert Henrietta immer wieder mit ihrem Problem, um ihr vor Augen zu führen, wie unfähig und unzuverlässig sie doch ist. So gelingt es Milly, die Kranke ständig zu demoralisieren, damit sie keine Anstrengungen unternimmt, etwas an ihrem Zustand zu ändern.
Dieses häufige Auftreten von (meistens alkoholischen) Getränken spricht sehr für Hitchcocks filmische Auseinandersetzung mit seinen Alkoholproblemen. Hitchcock, der an den Drehbuchentwürfen aktiv beteiligt war (Spoto, 1993, S. 362), ließ so manche vergiftete Drinks nachträglich in die Geschichte einbauen. Je später die Filme entstanden, desto eher versuchte er, den Alkohol als Droge zu verharmlosen (wie in Mr. and Mrs. Smith, Stage Fright, Rear Window, Vertigo oder North by Northwest) und Entschuldigungen für den häufigen Gebrauch zu finden, indem irgendwelche Probleme, Ängste oder Erinnerungen verdrängt werden müssen (wie u. a. in Notorious, Stage Fright, Rear Window oder Vertigo).
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